In der materialistische Weltsicht ist die Sonne bloß ein extrem großer Feuerball. Aber dieser Himmelskörper befindet sich interessanterweise genau in der richtigen Entfernung, um dem Menschen nicht gefährlich zu werden, sondern uns Wärme, Licht und Leben zu spenden. Wolfgang Held gibt in seinem Vortrag »Das Geheimnis der dreifachen Sonne« wichtige Denkanstöße, um dem wirklichen Wesen der Sonne näherzukommen.
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Abschied vom Feuer
Zu Beginn seines Vortrags thematisiert Held den »Abschied vom Feuer« als ein bedeutendes kulturelles Phänomen unserer Zeit. Nach 1,5 Millionen Jahren der engen Verbindung zwischen Mensch und Feuer erleben wir gegenwärtig eine Ablösung von dieser elementaren Kraft, die uns in vielen Bereichen unseres Lebens gedient hat.
Das Feuer als Ursprung der Menschwerdung: Held betont die elementare Bedeutung des Feuers für die Entwicklung des Menschen. Am Lagerfeuer lernte der frühe Mensch, sich vor wilden Tieren zu schützen, die Sprache zu entwickeln und Gemeinschaft zu bilden.
Die Einengung des Feuers in der Moderne: Im Laufe der Zeit domestizierte der Mensch das Feuer, sperrte es in Kammern ein und nutzte es für seine Zwecke, zum Beispiel im Verbrennungsmotor oder im Atomkraftwerk.
Der Abschied vom Feuer: Aktuell erleben wir eine zunehmende Abkehr vom Feuer in verschiedenen Bereichen. Manche Länder planen, den Verbrennungsmotor in den nächsten Jahren abzuschaffen. Moderne LED-Lampen ersetzen die herkömmliche Glühbirne, in der das Feuer in einem Glaskolben brannte. Moderne Technologien wie der 3D-Druck ermöglichen die Herstellung von Stahl ohne die intensive Hitze von Schmelzöfen. Wärmepumpen sollen zunehmend Gasbrenner, die früher für die Heizung in Häusern eingesetzt wurden, ersetzen. Schon seit Jahrzehnten sitzen Menschen am Abend nicht gemeinsam am lodernden Feuer, sondern vor dem flackernden Licht der Fernsehgeräte.
Die Transformation des Feuers:
Von der physischen zur geistigen Ebene
Held interpretiert den Abschied vom Feuer nicht als ein endgültiges Verschwinden, sondern als eine Transformation. Das Feuer, das uns als physische Kraft verlässt, wird auf einer geistigen Ebene in uns neu geboren und damit auf eine neue Ebene gehoben.
Die Vereinigung von Wärme und Licht, die das Feuer verkörpert, wird im Vortrag als Sinnbild für die Verbindung von Liebe und Erkenntnis interpretiert. Die »Feuergeister«, die wir aus unserem materiellen Leben entlassen, feiern in uns eine »Auferstehung«. Die Wärme und das Licht des Feuers transformieren sich in die innere Wärme der Liebe und das Licht der Erkenntnis.
Die Sonne in der Menschheitsgeschichte
Schon immer hat die Sonne die Menschen fasziniert. In vielen Kulturen, z.B. im frühzeitlichen Ägypten und im antiken Griechenland, wurde sie besungen und verehrt.
Der ägyptische Pharao Echnaton (zweites Jahrtausend v. Chr.) brach mit der Tradition der Vielgötterei und erklärte die Sonne zum einzigen Gott. Sein Sonnengesang verkündet die Allmacht und Allgegenwart der Sonne: »Du bist aufgegangen im Osten und dein Licht scheint über alle Länder bis an die Enden der Welt«. Echnatons Hymnus ist ein »Donnerschlag« in der damaligen Kultur, weil er die Sonne als allumfassende Gottheit in den Mittelpunkt stellt.
Der zweite überlieferte Sonnengesang, der Hymnus an den Gott Helios, wurde vom römischen Kaiser Julian Apostata (4. Jahrhundert n. Chr.) geschrieben. Er lebte an einer Zeitenwende und erlebte den Untergang des antiken Griechenlands mit. Sein Sonnengesang ist jedoch verschlüsselt und voller Geheimnisse. Julian beschreibt die Sonne als dreifache Gabe der Grazien, die vom Himmel zu den Menschen kommt.
Die dreifache Sonne
Was meinte Julian mit den drei Grazien? Um das zu verstehen, muss Ich mir die drei Aspekte der Sonne genauer ansehen. Julian beschreibt die Sonne nicht als Zentrum der Planeten, sondern als etwas, das sich in den Rhythmen der Jahreszeiten offenbart. Im Winter zeigt sich die Sonne im Leben, im Frühling in der Wärme und im Sommer im Licht – im Herbst zieht sich die Sonne zurück und geht langsam wieder in die Ruhephase des Winters über.
Leben: Im Winter, wenn die Natur ruht, sammelt sich die Lebenskraft in den Pflanzen. Es ist die Zeit der Regeneration und der Neuentstehung.
Wärme: Im Frühling erwacht die Natur und die Wärme der Sonne wird spürbar. Sie ist das Symbol der Liebe, die sich ausbreitet und alles mit einbezieht.
Licht: Im Sommer erstrahlt die Sonne in voller Kraft. Das Licht steht für die Erkenntnis, die uns die Welt verstehen lässt.
Die dreifache Sonne und das eigene »Ich«
Diese drei Aspekte der Sonne kann Ich auch auf mein eigenes Seelenleben übertragen. Wärme steht für Liebe, Licht für Erkenntnis und Leben für Entwicklung.
Liebe: Wie die Wärme, die sich ausbreitet, ist auch die Liebe universell. Sie kann nicht isoliert werden, sondern will die ganze Welt umfassen.
Erkenntnis: Erkenntnis ist wie ein Licht, das mir den Weg zeigt. Sie hilft mir, die Welt und mich selbst besser zu verstehen.
Entwicklung: Entwicklung ist die stetige Veränderung und Verwandlung, die Ich im Laufe meines Lebens erfahre.
Entwicklung durch Annahme der Schattenseiten
Diese ständige Verwandlung, besonders aber der Wandel zum inneren Feuer, erfordert Mut und die Bereitschaft, sich den Schattenseiten des Lebens zu stellen: Angst, Verlogenheit und Resignation. Erst durch die Auseinandersetzung mit diesen »dunklen« Aspekten können Liebe und Erkenntnis in uns aufblühen – aber dazu weiter unten mehr.
Held sagt, dass Entwicklung und Wachstum nicht ohne die Erfahrung von Widerständen und Rückschlägen möglich sind. Ähnlich wie das Sonnenlicht nicht nur hell und warm ist, sondern auch seine Schatten wirft, gehören Angst, Verlogenheit und Resignation zum menschlichen Leben dazu.
Anstatt diese »Schattenseiten« zu ignorieren oder zu verdrängen, sollte Ich sie als wertvolle Erfahrungen betrachten, die mir helfen können, zu wachsen und mich weiterzuentwickeln. Gerade aus den Momenten der Resignation können wichtige Erkenntnisse entstehen. Die Angst kann mich zu neuem Mut führen. Das »falsche Leben« kann mir den Weg zum Richtigen weisen.
Held veranschaulicht diesen Gedanken anhand des Sonnenlichts: »Was wäre ein sonniger Tag, wenn man nicht auch bewölkte Tage erlebt hat?« Erst der Kontrast zwischen Licht und Dunkelheit lässt mich die Schönheit und die Kraft des Sonnenlichts in seiner Fülle wahrnehmen.
Nur durch die Annahme der Schattenseiten und der damit verbundenen Herausforderungen können die »Feuergeister« – die Wärme der Liebe und das Licht der Erkenntnis – in mir auferstehen und zu einer guten Verwandlung führen.
Die Zukunft im Anderen sehen
»Die Zukunft im Anderen sehen«, ist ein weiterer faszinierender Gedanke aus Helds Vortrag. Die Zukunft, das Entwicklungspotenzial eines Menschen zu sehen, bedeutet, über die momentane äußere Erscheinung des anderen hinauszuschauen und zu erkennen, wie er werden könnte. Zu dieser äußeren Erscheinung gehören nicht nur das Aussehen oder die Kleidung, sondern auch die Gewohnheiten, Befindlichkeiten, die Wunden und Vorurteile des Menschen.
Jugendliche, die nach der Bedeutung von Freundschaft gefragt werden, beschreiben oft ähnliche Aspekte: »sich für andere einsetzen«, »den anderen helfen«, «den anderen nicht nur so nehmen, wie er ist, sondern so, wie er werden könnte«. Diese Aussagen deuten darauf hin, dass »die Zukunft im anderen sehen« ein zentraler Bestandteil von tiefen und erfüllenden Beziehungen ist.
Dazu braucht es mehr als nur oberflächliches Zuhören. Zuneigung und Erkenntnis müssen zusammenkommen. Ich muss den anderen Menschen verstehen und gleichzeitig die Bereitschaft haben, ihn zu lieben. Erst dann kann Ich sein Potenzial erkennen und an seine Entwicklung glauben.
»Die Zukunft im Anderen sehen« ist also ein tiefgründiges Konzept, das eng mit Liebe, Erkenntnis und Entwicklung verbunden ist. Im Kontext der dreifachen Sonne repräsentiert dieses Konzept die »geistige Sonne«, das innere Licht, das mich ermutigt, an die Entwicklung des anderen zu glauben und ihn auf seinem Weg zu unterstützen.
Fazit
Die dreifache Sonne ist also in vielerlei Hinsicht dreifach:
Im Außen spendet sie Wärme, Licht und Leben.
Im Innen wird zu Liebe, Erkenntnis und Entwicklung.
Im anderen bedeutet sie die Zukunft des anderen, die auch meine Zukunft und die schöpferische Quelle des Ganzen ist.
Aber was kann Ich jetzt konkret im Alltag tun, um dem Geheimnis der dreifachen Sonne und damit dem Wesen der Wirklichkeit näher zu kommen?
Besonnenheit üben: Eine konkrete Übung, die Sie an jedem Sonnentag machen können, ist, sich an einem ruhigen Platz von der Sonne bescheinen zu lassen und sich in Besonnenheit zu üben. Stellen Sie sich in Ruhe vor, die Sonne wäre nicht bloß ein monströser Feuerball, sondern die innere schöpferische Quelle unserer Welt. Fühlen Sie die angenehme und heilende Wärme der Sonne. Stellen Sie sich vor, die Sonne wäre nicht 150 Millionen Kilometer entfernt, sondern sie wäre Ihnen ganz nah, hinter den »denken Substanzen« am Horizont Ihres eigenen Denkvermögens. Versuchen Sie, sich die Welt nicht nur als ein materielles Außen vorzustellen, sondern die seelischen und geistigen Aspekte des Menschen und der Welt an sich in Ihr Denken zu integrieren.
Schatten mit dem Freiheitsprozess bearbeiten: Der Freiheitsprozess gibt eine klare Orientierung von der Organisation des Menschen. Die untere Hälfte des Kreisbildes zeigt die »Vergangenheits-Organisation«, die dem entspricht was hier als Schattenseiten beschrieben wurde. Im Freiheitsprozess ist es eine ständige Übung, auf der instinktiven, emotionalen und mentalen Ebene, alte Verhaltensmuster und Motive bewusst aufzulösen, um zum Neuen, zur Zukunft durchzudringen.
Die Zukunft im anderen durch den Freiheitsprozess: Die Zukunft im anderen zu sehen ist eine wesentliche Haltung, auf die der Freiheitsprozess hinführt. Dazu gibt der Freiheitsprozess klare Begriffe von der »Zukunfts-Organisation« des Menschen, von seiner Imaginations-, Inspirations- und Intuitionsfähigkeit, mit der er sich der inneren Sonnenquelle nähern kann. In der Konsequenz bedeutet »Die Zukunft im anderen zu sehen« den Dialog, eine Kommunikation durch die ein schöpferischer Geist hindurchgeht. Auch dafür gibt der Freiheitsprozess orientierung.
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Quellen:
Das Geheimnis der dreifachen Sonne. Vortrag von Wolfgang Held in Wien
https://youtu.be/1KIM4Tswpjo?si=wEiyPSvuInQYR2PC