2 November 2024

Beten für Erwachsene geht andersherum

Anstatt egozentrische Bitten an eine höhere Macht zu richten, plädiere ich für eine erwachsene Form des Gebets. Dabei liegt der Fokus auf der eigenen Aufgabe im Dienst der höheren Sache und auf der Erkenntnis des eigenen Beitrags zum Ganzen.

Disclaimer: Glauben Sie nichts, denken sie selbst – Versuchen Sie ihre Meinungen, Vorurteile und Widerstände für einen Moment zurückzustellen – Versuchen sie sich mit den hier beschriebenen Begriffen und Ideen zu verbinden – Versuchen sie es auszuhalten, dass in diesem Text mehr interessante Fragen aufgeworfen, als langweilige Antworten gegeben werden – Vielen Dank!


Gebete sind für Spinner und Kinder

Ein Gebet ist eine Bitte an Gott oder die Anrufung Gottes. Die meisten Leute beten heute wahrscheinlich nicht mehr, denn sie sind »aufgeklärt«. Die Vorstellung von vielen Aufgeklärten ist, dass die Naturwissenschaft die ganze Welt erklären kann. In diesem Rahmen hat Religion mit Wahrheit und Erkenntnis nichts zu tun, sie ist zu bloßer Ideologie und einem Anachronismus geworden. Ein Gebet ist heute vielleicht noch etwas für naive Spinner oder für Kinder vor dem Schlafengehen.


Naturwissenschaft macht keinen Sinn

Der naturwissenschaftlich ausgebildete Mensch, stellt sich vor, die Welt sei aus einem Urknall herausgewirbelt worden und alles sei, durch Naturgesetze beherrscht, aus der Materie entstanden, auch der Geist – und wenn es etwas wie Geist überhaupt gibt, dann findet dieser als materieller Prozess, als Synapsenfeuer in Gehirnen statt. Von unseren Gehirnen gesteuert, kämpfen wir auf der Erdoberfläche ums Überleben. Die Erde stellt man sich als Felskugel vor, die mit erschreckender Geschwindigkeit durch das schwarze, kalte Nichts des Universums rast. Dieses Spektakel passiert irgendwie zufällig und hat, so behauptet man, keinen tieferen oder höheren Sinn.


Bestellungen beim Universum sind modern

Trotz oder gerade wegen dieses trostlosen Weltbildes, gibt es viele Leute, die durch verschiedene Techniken versuchen, ihre Wünsche zu manifestieren. Sie wollen, statt durch Physik und Mechanik, »durch die Kraft der Gedanken, ihre eigene Realität kreieren«. Durch »Bestellungen beim Universum«, das Gesetz der Anziehung, Meditationen oder neurolinguistisches Programmieren, will man seine Wünsche und Ziele wahr werden lassen. Das »Universum« wird angerufen, um den Traumpartner, viel Geld, ein Jetset-Leben, das Traumauto oder wenigstens den Parkplatz für das Traumauto zu »manifestieren«. Damit das auch klappt, soll man »visualisieren«, »positive« Gefühle haben und »in die Dankbarkeit gehen«.


So oder so: eine Anrufung an die höhere Macht

In beiden Fällen, beim Gebet oder beim Manifestieren, wird eine höhere Macht angerufen, hier Gott, da das Universum, manchmal auch die Engel oder irgendwelche Energien. Also ist das moderne Manifestieren vielleicht auch nichts anderes als ein Gebet?! Und ich meine, ob nun Gott oder das Universum angesprochen werden, Gebete sind wichtig – aber sie sind meistens verkehrt herum und deshalb nichts für Erwachsene.


Das Universum interessiert sich nicht für Phantasmagorien

Der erwachsene Mensch ist aufgerufen, bewusst seine Freiheit zu entwickeln – den Freiheitsprozess durchzumachen. Für den Erwachsen(d)en ist dabei die erste Herausforderung, zu begreifen, dass Freiheit nicht Willkür, sondern Handeln aus Erkenntnis bedeutet. Unreflektierte Wünsche und Begierden, die aus alten Verhaltensmustern und Motiven kommen, die emotionale Löcher stopfen oder vom inneren Vakuum der Sinnlosigkeit ablenken sollen, sind willkürlich – auch wenn sie sich »positiv« anfühlen. Denn was ist positiv oder negativ? Das sind subjektive Emotionen, die in der Regel nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Genauso wie die meisten Vorstellungen von Erfolg und Reichtum. Das alles sind private Phantasmagorien, für die sich das Universum nicht interessiert.


Im Dienst der höheren Sache

Das Universum, die höhere Macht, das Zukünftige interessiert sich vielmehr für das, was Ich für es tun kann. Ich bin schließlich als Mensch auf diese Erde gekommen, mit einzigartigen Fähigkeiten begabt, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Ich bin gekommen, um mich tief unten in der Materie in den Dienst der höheren Sache zu stellen. Diese höhere Sache kann sich nur durch mich manifestieren, weil es sonst keiner kann, weil nur ich die richtigen Fähigkeiten habe. Und mit diesen Fähigkeiten stehe ich hier unten, aber aufrecht, auf der Erde und habe die Hände frei, um zu handeln. Der Begriff Manifestieren kommt vom lateinischen »manus«, was Hand bedeutet. Etwas manifestieren bedeutet etwas handgreiflich, offenbar, augenscheinlich zu machen. Das ist meine Aufgabe im Leben!


Beten für Erwachsene geht andersherum

Das Gebet für Erwachsene geht deshalb in die andere Richtung. Es geht nicht darum, was das Universum für mich tun kann, sondern was Ich für das Universum tun kann. Nicht was sich für mich durch das Universum manifestieren soll, sondern was sich durch mich für das Universum manifestieren will, ist von Interesse. Das wäre eine erwachsene Haltung, die jemandem der »Realität kreiert«, einem Kreativen, einem Schöpferwesen angemessen ist.

Der Freiheitsprozess bedeutet, dass ich mich immer wieder, jeden Tag erneut frage, was Ich sinnvolles tun kann, damit das Ganze, das Projekt Menschheit, in Zukunft gelingt. Diese Frage kann ich als Gebet an das Universum, an den Kosmos richten. Ich kann um Führung bitten, die mir hilft, klarer zu erkennen, was meine Aufgabe in der Welt ist.

Freiheit bedeutet, aus dieser Erkenntnis heraus – nach bestem Wissen und Gewissen – zu handeln. Freiheit bedeutet demütig gegenüber der höheren Aufgabe zu werden und sich dem Willen des Universums hinzugeben. Freiheit bedeutet, sich von alten Vorstellungen, von Bequemlichkeiten und Nützlichkeiten zu befreien, um zur eigenen kreativen Aufgabe vordringen zu können. Beten für Erwachsene bedeutet, mit dem Universum in Kontakt, in Kommunikation, in Kommunion zu kommen, zu erwachsen, zu erwachen, zu erkennen, um dann meinen Job zu tun.


Wo bleibt die Freiheit, wenn ich von höheren Mächten bestimmt werde?

Wer bis hierhin gelesen hat, wird vielleicht einen Widerspruch bemerken. Wenn der Freiheitsprozess bedeutet, sich über die eigene Aufgabe klar zu werden, diese aber »von oben« vorgegeben wird, wo bleibt da meine Freiheit? Dann wäre ich ja fremdbestimmt, nämlich von der höheren Macht.

Deshalb kann es nur so sein, dass Ich selbst die höhere Macht bin, dass Ich mich selbst durch das Gebet anrufe, um zu erfahren, was Ich wirklich will. Ich habe also diese Aufgabe selbst bestimmt, ich weiss es nur noch nicht. Dieser Teil meines Ich liegt außerhalb meines Alltagsbewusstseins, sozusagen in der Zukunft, weil es mir erst später bewusst werden wird. Diesen aus der Zukunft wirkenden Teil meines Ich nenne ich deshalb auch »Zukunfts-Ich«.